Was bedroht uns?

»In der Region Krasnodar kommen auf einen Bewohner zwei Kilogramm Pestizide«, hieß es 1995 in einem Bericht des lokalen Naturschutzkomitees. Pflanzenschutzmittel sowie chemische Dünger stünden in enger Verbindung mit einer erhöhten Krebsrate und einer stark gestiegenen Sterblichkeit. Seit den 1960er-Jahren nahm die Chemisierung im Kubangebiet stark zu. Dabei funktionierte die Kontrolle durch lokale Parteiinstanzen kaum und der Landbevölkerung fehlte es an Fachwissen, um ihr Handeln kritisch zu hinterfragen. Die richtige Dosierung kannten sie selten und weil auf den Reisfeldern Chemikalien nur per Flugzeug ausgebracht werden konnten, wurden bei ungünstigen Windverhältnissen oft ganze Siedlungen eingenebelt.

Zahlreiche Wissenschaftler*innen wussten um die negativen Folgen des übermäßigen Gebrauchs von Pflanzengiften, Insektiziden und chemischen Düngern. Ihre Bedrohungsdiagnose konnten sie den Landarbeiter*innen aber nicht direkt vermitteln – zu restriktiv war die Informationspolitik des Sowjetstaates. Der Zusammenhang zwischen der steigenden Verwendung von Chemikalien und der Zunahme von Krankheiten durfte erst zum Ende der Sowjetunion thematisiert werden.

Bild unten: »Sovchozdirektor A.I. Majstrenko und Gruppenleiter I.M. Čaun machen sich für die Reisaussaat bereit«, aus der Fachzeitschrift »Gidrotechnika i Melioracija«, 1969
VERGLEICH Der Faktor Zeit in
bedrohten Ordnungen

Wer sind wir?

»Zur Steigerung der Erträge (…) / brachten sie auf den Reis oft blind / dem Aussehen nach verschiedene Chemikalien / und im Getreide lagerten sich diese Gifte ab«, dichtete Ende der 1980er-Jahre der pensionierte Wasserbauingenieur Boris Kosenko. In »Reisbrei« wies er auf die unsichtbare Bedrohung am Kuban hin. Leidtragende war die lokale Bevölkerung: Sie konsumierte das verseuchte Trinkwasser, atmete in den trockenen Sommermonaten den Staub der Äcker ein und aß die belasteten Feldfrüchte. Bei dem Einsatz von eigentlich verbotenen Substanzen wie DDT habe es sich um eine »philosophische Frage« gehandelt, wiegelte der ehemalige Leiter einer Sowchose trotzig ab. In solchen kooperativen Landwirtschaftsbetrieben, die direkt dem Staat unterstanden, siegte meist die Devise »viel hilft viel«. Und wenn ein Feld wenig Ertrag lieferte, wurde es einfach noch stärker besprüht. Nur hinter verschlossenen Türen fand ein kritischer Austausch zwischen Expert*innen statt. In der Öffentlichkeit durfte die gesellschaftliche Ordnung nicht in Frage gestellt werden.

GEDICHT »Reisbrei«
von Boris Kosenko

Und von Neuem: »Alle Felder unter den Pflug,
Reis am Kuban – Heldentat des ganzen Volkes!«
Der Weizen gibt nun nicht solchen Ertrag
und kam für Auszeichnungen aus der Mode.

Und statt der Erschließung von Sümpfen
wurde der Reis zur fruchtbaren Saat
und machte zunichte Devise und Rechnung
des Reisertrages, der für Brei ungeeignet:

Zur Steigerung der Erträge gleich
der Zahl der Erfolge des Krasnodarer Gebiets
in Arbeit, der Wissenschaftler Ränge und Preise

brachten sie auf den Reis oft blind
dem Aussehen nach verschiedene Chemikalien
und im Getreide lagerten sich diese Gifte ab.

»Reisbrei«
von Boris Kosenko

Was brauchen wir?

Die Bevölkerung wusste wenig um die Gefahren des Chemieeinsatzes. Die schleichende Vergiftung der natürlichen Ressourcen Krasnodars blieb für sie eine versteckte Bedrohung. Kritisch äußerten sich nur wenige Wissenschaftler*innen. In Büchern und Aufsätzen mahnten sie zur strengeren Kontrolle und forderten die gezielte Ausbildung von Spezialist*innen. Allerdings versandeten diese Empfehlungen meist im Chaos der staatlichen Organisation. Weil es bis zum Ende der Sowjetunion viel zu wenig lokale Fachkräfte gab, die Erkenntnisse aus der Wissenschaft gezielt umsetzen konnten, blieben die Ideen einer nachhaltigen Landwirtschaft in der Sowjetunion nur graue Theorie. Die lokalen Eliten zeigten erwartungsgemäß wenig Begeisterung für kritische Studien, die ihre eigene Inkompetenz offenbarten. Erst mit den Reformen des Parteichefs Michail Gorbatschow setzte Ende der 1980er-Jahre ein gesellschaftliches Umdenken ein: wirtschaftliche und organisatorische Mängel wurden immer öfter angeprangert und alternative Lösungswege diskutiert. Es formierten sich unabhängige, lokale Aktionsgruppen, die sich für den Umweltschutz einsetzten. Heute sind diese jedoch erneut staatlicher Repression ausgesetzt.

Illustration: Paula Radon

Was tun wir?

Lange war es der Sowjetbevölkerung selbst überlassen, ihre alltäglichen Probleme zu lösen. »Moskau ist weit weg«, hieß die lakonische Devise. Kritische Bildung und offene Meinungsäußerung blieben bis in die Spätzeit des Systems leere Ideale. Forschungsinstitute waren chronisch unterfinanziert und die politische Mitsprache von Wissenschaftler*innen war selten erwünscht. Als unter Gorbatschow jedoch abweichende Stimmen nicht mehr sanktioniert wurden, organisierten sich zusehends lokale Interessensgruppen. Sie fanden in der Verwaltung wenig Gehör, schufen sich aber in Flugblättern, selbst herausgegebenen Zeitungen und auf Diskussionsversammlungen ihr Sprachrohr. Die Staatsführung vermochte diesen öffentlichen Selbstläufer nicht mehr einzudämmen. Peinlichkeit um Peinlichkeit aus dem Planungs- und Parteiapparat wurde so aufgedeckt und angeprangert: offensichtlich beging der Sowjetstaat nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch ökologischen Selbstmord. In den 1990er-Jahren sahen viele Menschen in Krasnodar eine Chance zum Wandel. Doch wurden sie von den neuen Machthabern bald ebenso bitter enttäuscht – schließlich möchte niemand, der auf Kosten der Natur Profit schlägt, am Pranger stehen.

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